Ruth Klüger

(Wien 1931 – Irvine, Kalifornien 2020): Als Jugendliche in Auschwitz

Überlebenskunst

Ruth Klüger, 16. Oktober 2008, Berlin
Copyright: Das blaue Sofa / Club Bertelsmann

Ruth Klüger ist eine anerkannte Germanistin, die an mehreren amerikanischen und europäischen Universitäten wirkte. Als sie ihre Erinnerungen an die Jahre ihrer Kindheit und frühen Jugend niederschrieb, ahnte sie nicht, dass sie damit einen in mehrere Sprachen übersetzten Bestseller verfassen würde. Immerhin handelt es sich bei dem 1992 erstmals veröffentlichten Buch „weiter leben“ nicht um leichte Kost, es ist literarisch anspruchsvoll und beschreibt die Erfahrungen in mehreren KZ, so auch im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. 2008 wurden die Erinnerungen für die Aktion „Eine Stadt. Ein Buch“ ausgewählt, und die Stadt Wien verteilte 100.000 Gratis-Exemplare.

Ruth Klügers Vater, Viktor Klüger (1899–1944), war Frauenarzt in Wien. Nach dem „Anschluss“ wurde er verhaftet, er floh im Sommer 1938 nach Italien und später nach Südfrankreich. Seine Ehefrau und seine Tochter mussten zurückbleiben, da die Familie die für die Ausreise erforderliche Reichsfluchtsteuer nicht aufbringen konnte. Seine Flucht erwies sich als zwecklos, denn Viktor Klüger wurde im April 1944 verhaftet, im Mai 1944 vom Sammellager Drancy ins Baltikum deportiert und dort ermordet.

Im September 1942 wurde Ruth Klüger mit ihrer Mutter Alma von Wien nach Theresienstadt und am 16. Mai 1944 von dort ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert, wo sie im so genannten Theresienstädter Familienlager interniert wurden. In ihren Erinnerungen debattiert sie, dass bei diesen Deportationen oft von Viehwaggons geschrieben wurde, doch eigentlich seien es Güterwaggons gewesen. Wären Tiere so transportiert worden, wäre das Tierquälerei gewesen. Dem in Filmen oft kolportierten Bild, dass ein „Held“ ein nach Luft schnappendes Kind zur Luke des Waggons hält, widerspricht sie. Wer bei der Luke stand, setzte die Ellbogen ein und gab den Platz nicht auf. Im Waggon stank es nach Urin und Kot. Eine ältere Frau verlor die Nerven, setzte sich auf den Schoß der Mutter und urinierte. Ihre Mutter schob die alte Frau weg, jenseits von Zorn und Empörung. Nach der Ankunft in Auschwitz schlug ihr die Mutter vor, sich gemeinsam das Leben zu nehmen und zum elektrisch geladenen Stacheldraht zu gehen. Das überstieg das Fassungsvermögen der Zwölfjährigen. In den kommenden Tagen folgten Hunger, Durst, der Rauch der Krematorien, Gestank, Langeweile, Brutalität, Enge, Hilflosigkeit, Leichen, Anfälle von Angstzuständen.

Fantasien trösteten Ruth Klüger, sie wollte alles einmal in einem Buch dokumentieren und begann zu dichten. Sie merkte sich die Gedichte, da es nichts zu schreiben gab. Erst 1945 schrieb sie die Verse nieder, wie jene Strophe aus dem Gedicht „Auschwitz“:

Gott, du allein darfst’s doch nur geben,
das große, heilige Menschenleben,
du gibst das Dasein und du gibst den Tod.
Und du, du siehst dieses endlose Morden,
du siehst die blutigen, grausamen Horden,
und Menschen verachten dein höchstes Gebot.

Das Trauma in ein Versmaß und eine Regelmäßigkeit zu gießen sei für sie ein Gegengewicht zum Chaos gewesen, ein therapeutischer Selbstversuch, dem sinnlos Destruktiven etwas entgegenzusetzen.

Ein Zufall rettete ihr im Juni 1944 das Leben. Es wurden Frauen für eine Arbeit gesucht, die sich in einer Baracke nackt in zwei Reihen anstellen mussten. Am Ende entschieden zwei SS-Männer, wer ihrer Ansicht nach arbeitsfähig war und wer nicht. Ihre Mutter wurde als arbeitsfähig ausgewählt, die Tochter als zu jung abgelehnt. Außerhalb der Baracke versuchte die Mutter, Ruth zu überreden, sich bei der Wache vorbeizuschleichen, sich nochmals in der anderen Reihe anzustellen und zu behaupten, sie sei 15 Jahre alt. Die Tochter sah sich nicht imstande, derart zu lügen; sie werde höchstens sagen, dass sie 13 Jahre alt sei. Tatsächlich schaffte sie es, sich in die Baracke einzuschleichen und sich in der anderen Reihe anzustellen. Neben dem dort gut gelaunten SS-Mann saß eine junge Häftlingsfrau, die dessen Entscheidungen notierte. Die Häftlingsfrau stand auf, ging zu ihr und fragte, wie alt sie sei: „Dreizehn.“ Eindringlich forderte die Frau sie auf: „Sag, dass du fünfzehn bist.“ Die Häftlingsfrau half ihr nochmals, als sie vor dem zweifelnden SS-Mann stand. Sie habe Muskeln an den Beinen und könne arbeiten. So kam Ruth Klüger auf die Liste der Arbeitsfähigen und wurde mit ihrer Mutter ins nächste KZ deportiert, nach Christianstadt, einem Außenlager des KZ Groß-Rosen. Anfang Juli 1944 wurde das Theresienstädter Familienlager aufgelöst. Die Arbeitsfähigen wurden ausgewählt, alle anderen ermordet.

Literatur

Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend, Göttingen 1992.

Ruth Klüger, unterwegs verloren. Erinnerungen, Wien 2008.

Ruth Klüger, Zerreißproben. Kommentierte Gedichte, München 2016.

Renata Schmidtkunz, Das Weiterleben der Ruth Klüger, Dokumentarfilm 2013.