Österreich nach 1945

Noch vor der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht erklärten am 27. April 1945 in Wien Vertreter der wieder bzw. neu gegründeten Parteien SPÖ, ÖVP und KPÖ den „Anschluss“ für nichtig und Österreich für unabhängig. Am selben Tag trat die Provisorische Staatsregierung zusammen. Während der Besatzung durch die Alliierten führte Österreich erste Maßnahmen zur Entnazifizierung durch. In der Nachkriegszeit wurde die Bestrafung ehemaliger Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten jedoch nur halbherzig durchgeführt. Zur Schuldabwehr und zur Stärkung der eigenen Position in den Staatsvertragsverhandlungen diente die Position, dass Österreich das erste Opfer Hitler-Deutschlands gewesen sei. Diese so genannte Opferthese sollte über Jahrzehnte die österreichische Geschichtspolitik bestimmen. Der Nationalsozialismus wurde als Ereignis außerhalb der eigentlichen österreichischen Geschichte gedeutet. Damit wurden die NS-Opfer marginalisiert, Restitution und Entschädigung erschwert. Die Überlebenden des Holocaust waren weiterhin mit Antisemitismus bzw. Antiziganismus konfrontiert.

Das befreite Österreich war in vier Besatzungszonen mit jeweils eigener Militärverwaltung unterteilt. Die neue österreichische Staatsregierung hatte alle Gesetzesvorlagen dem Alliierten Kontrollrat vorzulegen und erlangte erst im Juni 1946 weitergehende Befugnisse – nunmehr bedurften nur noch Verfassungsgesetze der alliierten Zustimmung.

Eine Entnazifizierung, also die Aufarbeitung der Involvierung von Österreicherinnen und Österreichern in den Nationalsozialismus und die Verbrechen des NS-Regimes, fand in den ersten Monaten nach Kriegsende zunächst nach den Vorstellungen der jeweiligen Militärverwaltung statt. Die Provisorische Staatsregierung erließ im Zuge dessen eine Reihe von Gesetzen zur Entnazifizierung, im Wesentlichen das Verbotsgesetz und das Kriegsverbrechergesetz. Die vormaligen Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten wurden zur Registrierung von Mitgliedschaften bei den Meldeämtern verpflichtet. Je nach Beitrittszeitpunkt bzw. Rang und Mitgliedschaft in der NSDAP und ihren Gliederungen wie etwa SS und SA erfolgten rechtliche Konsequenzen, zum Beispiel Steueraufschlag, Vermögensverfall und Berufsverbot sowie Entlassung aus dem öffentlichen Dienst. Zu den Maßnahmen zählte auch der Entzug des Wahlrechts für die Nationalratswahl am 25. November 1945.

Zur Behandlung von Kriegsverbrechen und der als Hochverrat geahndeten Zugehörigkeit zur NSDAP in der Zeit von 1933 bis 1938 wurden in Wien, Graz, Linz und Innsbruck Volksgerichte eingesetzt. Diese behandelten insgesamt 136.829 Fälle und fällten 23.477 Urteile, davon 58 % Schuldsprüche. Von 43 Todesurteilen wurden 30 vollstreckt. 34 lebenslängliche Freiheitsstrafen wurden ausgesprochen, sechs davon abgemildert. Die Mehrzahl der Strafen (61 %) bewegte sich im Rahmen von ein bis fünf Jahren. Ab 1948 kam es zu mehr Freisprüchen als Verurteilungen, die ab 1949 ausgesprochenen Strafen überstiegen nur selten ein Jahr. Die hohen Strafmaße der früheren Urteile wurden in Wiederaufnahmeverfahren oftmals nach unten korrigiert oder sogar gänzlich aufgehoben.

Die Auseinandersetzungen zwischen Ost und West im Kalten Krieg hatten dazu geführt, dass das Interesse an der Verfolgung der NS-Täterinnen und NS-Täter aufseiten der Alliierten bald in den Hintergrund rückte. Unter dem Vorwand demokratiepolitischer und wirtschaftlicher Notwendigkeit wurden die „Ehemaligen“ in die österreichische Gesellschaft reintegriert.

Den meisten Täterinnen und Tätern gelang es, zunächst unterzutauchen, um sich so ihrer Verantwortung zu entziehen. Adolf Eichmann, Franz Novak, Alois Brunner und vielen anderen gelang die Flucht ins Ausland, wo sie zumindest für mehrere Jahre unbehelligt leben konnten. Franz Novak zum Beispiel, der als Mitarbeiter Eichmanns den Transport ungarischer Jüdinnen und Juden nach Auschwitz organisiert hatte, wurde erst 1961 verhaftet. Das Geschworenengericht sprach ihn vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord frei. Eichmann lebte bis zu seiner Verhaftung 1961 in Argentinien, Alois Brunner unbehelligt bis zu seinem Tod in Damaskus.

Bereits im April 1948 beendete die „Minderbelastetenamnestie“ für 487.067 Personen (90 % der registrierten Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten) deren Strafverfolgung. Bei der Nationalratswahl 1949 trat mit der „Wahlpartei der Unabhängigen“ (später VdU bzw. FPÖ) eine Partei an, die sich vor allem als Interessenvertretung der vormaligen Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten verstand.

Zur Bewusstseinsbildung um die Involvierung von Österreicherinnen und Österreichern in die NS-Verbrechen konnte die Entnazifizierung nach Kriegsende nur wenig beitragen. Überlebende von Schoa und Porajmos waren mit einem ungebrochenen Antisemitismus und Antiziganismus konfrontiert. Verfahren zu Restitutionen und Entschädigungen enthielten faktische und rechtliche Hürden, die die geschädigten Personen belasteten (z.B. Verfahrensführung aus dem Ausland mit entsprechenden Kosten und Schwierigkeiten der Beweisvorlage, Ausfuhrverbote rückgestellter Kunstgegenstände etc.) und den Interessen der „Ariseure“ entgegenkamen.

Ausgangspunkt für die österreichische Opferthese war eine einseitige Auslegung der Moskauer Deklaration (1943), in der Österreich gleichzeitig als Opfer der Aggression Hitler-Deutschlands und als mitverantwortlich für die Beteiligung am Zweiten Weltkrieg bezeichnet worden war. Die Mitverantwortung an NS-Verbrechen wurde auch in Hinblick auf die Staatsvertragsverhandlungen negiert bzw. auf Deutschland und/oder einen engen Führungszirkel um Hitler abgeschoben.

Die eigene Involvierung in Kriegsverbrechen wurde vom offiziellen Österreich weitgehend ausgeblendet, während widerständige Handlungen in der Erinnerungskultur überbetont wurden. Der Mythos vom ersten Opfer NS-Deutschlands erodierte seit Mitte der 1980er-Jahre im Zuge der Affäre um den Bundespräsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim. In zwei viel beachteten Reden vor dem österreichischen Nationalrat 1991 und der israelischen Knesset 1993 bekannte Bundeskanzler Franz Vranitzky schließlich die Mitverantwortung von Österreicherinnen und Österreicher an den NS-Verbrechen.