Lotte Brainin

(Wien 1920 – Wien 2020): Widerstandskämpferin

„Was soll man zu diesem Leben sagen? Man kann ja nicht einmal damit anfangen“ (Elfriede Jelinek)

Lotte Brainin, 1964
DÖW / Foto 7696a

Lotte Brainin (geb. Sontag) war eine wichtige Stimme der Erinnerung in den Lagergemeinschaften Ravensbrück und Auschwitz und in der österreichischen Öffentlichkeit, aber auch als engagierte Zeitzeugin in Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern. Sie verfügte über eine Erfahrung, die viele gegenwärtig haben: Sie wurde als jüngstes Kind einer Flüchtlingsfamilie geboren. Ihre jüdische Familie flüchtete im Ersten Weltkrieg aus dem galizischen Lemberg (heute Lwiw, Ukraine) vor den gefürchteten russischen Truppen nach Wien.

Armut, beengte Wohnverhältnisse, Delogierung, Spannungen zwischen den Eltern und Scheidung gehörten ebenso zu ihrem Aufwachsen wie das politische Engagement ihrer Familie zuerst in der sozialdemokratischen und später in der kommunistischen Partei. Wegen der illegalen antifaschistischen Aktivitäten kam sie schon als Jugendliche zur Zeit des Austrofaschismus mit dem Gesetz in Konflikt, wurde wiederholt inhaftiert. Im Vergleich zu ihrer politischen Haltung war ihr die jüdische Herkunft nicht so wichtig, aber den Antisemitismus konnte sie nicht ausblenden.

Nach der NS-Machtübernahme floh sie nach Belgien. Ihre jüdische Herkunft verheimlichte sie bei ihrer Widerstandstätigkeit im vom Deutschen Reich besetzten Belgien. Wie andere junge Frauen im Widerstand wurde sie für eine verharmlosend als „Mädlarbeit“ bezeichnete, äußerst gefährliche Aktivität eingesetzt: Die jungen Frauen versuchten, das Vertrauen von Wehrmachtsangehörigen zu gewinnen und sie dazu zu überreden, antifaschistische Schriften unter ihren Kollegen zu verbreiten, Waffen für die Widerstandsgruppe zu stehlen oder gar zu desertieren.

Einer dieser Soldaten verriet sie, die Deutsche Militärpolizei verhaftete sie im Juni 1943. Verhöre mit Folter durch Militärpolizei und Gestapo sollten ihren Willen brechen, was bei ihr vergeblich war. Ihre ebenfalls verhaftete Freundin hielt dem jedoch nicht stand, und so kam ihre Wiener jüdische Identität zum Vorschein. Im SS-Sammellager Mecheln (Malines) traf sie nochmals ihre Mutter, mit der sie in Belgien zusammen war. Es waren die letzten Gespräche, die Mutter wurde unmittelbar nach der Ankunft im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordet.

Lotte Brainin wurde im Jänner 1944 nach Auschwitz deportiert. Sie suchte und fand Kontakt zur Widerstandsgruppe in Auschwitz und nutzte ihre Zwangsarbeit als Kontrolleurin in einer Munitionsfabrik, um mit anderen Frauen Sabotageakte durchzuführen. So wurde etwa Sprengpulver aus der Munitionsfabrik für den bewaffneten Aufstand des Häftlings-Sonderkommandos geschmuggelt und bei der Sprengung des Krematoriums IV am 7. Oktober 1944 verwendet. Vier Frauen, Ala Gertner, Regina Safirsztajn, Rózia Robota und Ester Wajcblum, wurden deswegen am 6. Jänner 1945 am Appellplatz hingerichtet. Sie hatten die anderen Beteiligten trotz wochenlanger Folter nicht verraten und retteten so deren Leben.

Lotte Brainin wurde im Zuge der Evakuierung von Auschwitz ins KZ Ravensbrück überstellt, wo sie in Konflikt mit der dortigen Widerstandsbewegung geriet. Als Strafe wurde sie auf Initiative der Leiterin des Widerstandes in ein Nebenlager von Ravensbrück, das KZ Uckermark, überstellt.

Die Rückkehr nach Wien war ernüchternd, sie stieß auf Unverständnis. Die Liebe zu Hugo Brainin dürfte ihr Kraft verliehen haben, ebenso zunächst auch die Arbeit für die Kommunistische Partei, für die sie jahrelang ihr Leben riskiert hatte. In den 1960er-Jahren verließ sie gemeinsam mit ihrem Mann diese politische Heimat. „Bewältigt hab ich gar nix. Ich hab nur geträumt und die Träume haben mein Leben zerstört“, ist einer der erschütternden Sätze aus einem Interview über die Fortdauer der psychischen Belastungen.

Sie musste enorm viel ihrer Lebenskraft dafür verwenden, ihr Leben zu stabilisieren. Dafür bedurfte es vieler Schritte, wie z. B. als Zeitzeugin in einer Schule aufzutreten. Sie sagte, sie fühle sich wie ein „ausgestopftes Viech, weil es ist ein purer Zufall, dass ich überhaupt lebe.“ Trotzdem oder deswegen gelang es ihr, streitbar zu bleiben und Hoffnung zu vermitteln.

Literatur

Grußbotschaft von Elfriede Jelinek zum 100. Geburtstag von Lotte Brainin, 2020: https://www.brainin.at/lotte/video.html (27.04.2023).

Tina Leisch, Das Salz unseres Brotes. Lotte Brainin zum Neunzigsten. In: Mitteilungsblatt der österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück & FreundInnen, Dezember 2010, S. 17–19.

Marika Schmiedt, Lotte Brainin, Eine Heldin des jüdischen Widerstands. Eine virtuelle Ausstellung über das Leben der Wiener Widerstandskämpferin und Shoah-Überlebenden Lotte Brainin zum 100. Geburtstag, 2020: https://www.brainin.at/ (28.12.2020).