Jean Améry (Hans Mayer)

(Wien 1912 – Salzburg 1978): „Soweit die Sprache reicht“

Das literarische Vermächtnis eines Auschwitz-Überlebenden

Jean Améry, 01.05.1977
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Jean Améry wurde als Hans Mayer am 31. Oktober 1912 in Wien geboren. Sein Elternhaus war das einer assimilierten jüdischen Familie, die sich mehr österreichisch als jüdisch verstand: Sein Vater stammte aus einer traditionsreichen jüdischen Familie in Hohenems, die Familie seiner Mutter war zum katholischen Glauben konvertiert. Nach einigen Jahren in Hohenems verbrachte Améry, dessen Vater im Ersten Weltkrieg gefallen war, seine Jugend mit seiner Mutter im Salzkammergut und in Wien in katholischem Milieu. Schon als Schüler träumte er davon, Schriftsteller zu werden, absolvierte eine Buchhändlerlehre in Wien, studierte und hörte Vorlesungen zu Literatur und Philosophie. Daneben gab er die literarische Zeitschrift „Die Brücke“ heraus und schrieb 1934/35 seinen ersten Roman „Die Schiffbrüchigen“.

Von Anfang an sah sich Améry als Gegner des Hitler-Regimes in Deutschland, doch erst mit der nationalsozialistischen Verfolgung nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich wurde er sich auch seiner jüdischen Identität bewusst, die ihm von den Nationalsozialisten durch die Nürnberger Gesetze zugeschrieben wurde. „Als der Donnerschlag kam, der 11. März 1938, da mein Land jauchzend sich dem Führer des großdeutschen Reiches an den Hals warf, war ich gerüstet.“ Gleich nach dem „Anschluss“ floh Améry daher gemeinsam mit seiner Frau Regine nach Belgien, wo er 1940 in Antwerpen als „feindlicher Ausländer“ inhaftiert und in das südfranzösischen Camp Gurs deportiert wurde. Ein Jahr später gelang es ihm, aus dem Lager zu entkommen. Er floh zurück nach Belgien, lebte im Versteck und schloss sich der belgischen Widerstandsbewegung an.

„Meine Auschwitznummer liest sich kürzer als der Pentateuch oder der Talmud und gibt doch gründlichere Auskunft.“

Am 23. Juli 1943 wurde er beim Verteilen von antinazistischen Flugblättern verhaftet. Er wurde mehrere Tage in Fort Breendonk verhört und gefoltert. Schließlich wurde er über das Sammellager Malines (Mechelen) am 15. Jänner 1944 nach Auschwitz deportiert und mit der Häftlingsnummer 172364 nach Auschwitz III-Monowitz überstellt, wo er in den Buna-Werken Zwangsarbeit leisten musste. Ab Juni desselben Jahres arbeitete er in der Schreibstube der Buna-Werke. Mit der Evakuierung des KZ Auschwitz wurde Améry zuerst über Gleiwitz II ins KZ Mittelbau-Dora, ein Außenlager des KZ Buchenwald, und schließlich nach Bergen-Belsen verschleppt, wo er im April 1945 von der britischen Armee befreit wurde. „Mit fünfundvierzig Kilogramm Lebendgewicht und einem Zebra-Anzug wieder in der Welt.“

Nach dem Kriegsende lebte Améry als Kulturjournalist und Schriftsteller in Brüssel und veröffentlichte zunächst in verschiedenen deutschsprachigen Schweizer Zeitungen. Veröffentlichungen in Deutschland lehnte er kategorisch ab. Ab den 1950er-Jahren begann er, das Anagramm Améry zu benutzen, und legte seinen deutschen Namen schließlich ab. Der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963 gab ihm schließlich den Anstoß, sein Überleben literarisch zu verarbeiten. 1966 veröffentlichte er den Essayband „Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten“, in dem er seine Exil-, Folter- und KZ-Erfahrungen sowie seine Identität als jüdisches Opfer reflektierte. Der Band, wenngleich zuerst von renommierten Verlagen abgelehnt, machte ihn über Nacht berühmt und wurde zu einem der zentralen Texte der deutschsprachigen Holocaustliteratur.

„Die Tortur, das fürchterlichste Ereignis, das ein Mensch in sich bewahren kann (...). Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert. Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Das zum Teil schon mit dem ersten Schlag, in vollem Umfang aber schließlich in der Tortur eingestürzte Weltvertrauen wird nicht wiedergewonnen.“

Améry konnte, wie er selbst beschrieb, nicht mehr heimisch werden in der Welt. Neben vielen Lesereisen nach Deutschland sowie Auftritten in Radio und Fernsehen veröffentlichte er weiter, blieb jedoch in der Rezeption auf seinen Opferstatus beschränkt. 1976 veröffentlichte er schließlich den Essay „Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod“, in dem er den so genannten Bilanzsuizid, also den mehr oder weniger rational begründeten Selbstmord, vertrat. „Der Hang zum Freitod ist keine Krankheit, von der man geheilt werden muss wie von den Masern. (...) Der Freitod ist ein Privileg des Humanen.“ Am 17. Oktober 1978 nahm sich Jean Améry im Hotel „Österreichischer Hof“ in Salzburg das Leben. Er ist am Wiener Zentralfriedhof in einem Ehrengrab (Gruppe 40, Nr. 132) begraben.

Literatur

Jean Améry , Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Essays, München 1966.

Jean Améry, Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod, Stuttgart 142012.

Interview: Zeugen des Jahrhunderts – Jean Améry (ZDF, 1978); online: https://www.youtube.com/watch?v=lvtAvs-4JBs

Der Grenzgänger. Jean Améry im Gespräch mit Ingo Hermann, Göttingen 1992.

Wilfried F. Schoeller, Gegen sich denken können. Zum 90. Geburtstag von Jean Amery. In: Deutschlandfunk, 3.11.2002; online: https://www.deutschlandfunk.de/gegen-sich-denken-koennen-zum-90-geburtstag-von-jean-amery-100.html

Lukas Brandl, Philosophie nach Auschwitz: Jean Amérys Verteidigung des Subjekts, Wien/Berlin 2018.

Irene Heidelberger-Leonard, Jean Améry. Revolte in der Resignation, Stuttgart 2004.