Ella Lingens

(Wien 1909 – Wien 2002): Eine der wenigen „Gerechten“ aus Österreich

Ins KZ, weil sie anderen half

Die israelische Shoah-Gedenkstätte Yad Vashem zeichnet Personen aus, die in der NS-Zeit versuchten, das Leben von bedrohten Jüdinnen und Juden uneigennützig, ohne Entgegennahme von Geld oder Wertgegenständen, zu retten. Ella Lingens gehört zu den bisher 112 Ausgezeichneten aus Österreich, denen diese Ehrerkundung von israelischer Seite erwiesen wurde. Die Historikerin Erika Weinzierl sprach nicht ohne Grund von „zu wenig Gerechten“, denn es waren nur einzelne, die den Mut aufbrachten, den mörderischen Plänen der Nationalsozialisten etwas entgegenzusetzen.

Ella Lingens und ihr Ehemann Kurt standen in Kontakt mit Karl Motesiczky – sie alle studierten Medizin – und kümmerten sich schon 1938 um bedrohte Jüdinnen und Juden, versteckten sie in ihrer Wohnung oder brachten sie woanders unter bzw. halfen bei der Flucht. Im Oktober 1942 wurden sie verraten. Kurt Lingens wurde in eine Strafkompanie versetzt. Wie auch Karl Motesicky – er kam im Juni 1943 in Auschwitz ums Leben – wurde Ella Lingens nach mehrmonatiger Haft im Februar 1943 nach Auschwitz deportiert.
In Auschwitz wurde sie im Frauenlager Birkenau ohne medizinische Praxis als Häftlingsärztin eingesetzt. Dabei wurde sie Zeugin, wie SS-Ärzte wie Josef Mengele die Situation ausnutzten und rücksichtlos an Häftlingen ihre Versuche durchführten, um sich als Mediziner zu profilieren. Eine beeindruckende Passage der Autobiografie befasst sich mit ihrer Strafversetzung in den polnischen Block, wo sie zunächst als „Deutsche“ auf Misstrauen stieß, jedoch aufgrund ihres selbstbewussten Auftretens Vertrauen gewann, wohl auch, weil sie sich die polnische Sprache aneignete. Im Dezember 1944 wurde sie in das KZ Dachau transferiert und dort befreit. Ihr 1939 geborener Sohn hatte in Kärnten überlebt. Seine Mutter erkannte er 1945 nicht, sie hatte schlohweißes Haar.

Ihre 1948 in englischer Sprache publizierten Erinnerungen zählen zu den wichtigen frühen autobiografischen Texten von Auschwitz-Überlebenden. Das Buch, so ihr Sohn, der Journalist Peter Michael Lingens, blieb zunächst erfolglos, auch weil sie von Beginn an gegen das Schwarz-Weiß-Denken auftrat und darstellte, dass in der SS-Wachmannschaft nicht nur Bestien aktiv waren und unter den Opfern keineswegs alle Heldinnen und Helden waren. Sie nahm sich kein Blatt vor den Mund, beschrieb im Bemühen um Sachlichkeit auch Aspekte, die mit den sich einschleifenden, simplifizierenden Erzählmustern im Widerspruch standen.

Die SS stellte ihr im KZ immer wieder die Frage, warum sie sich als „arische Deutsche“ der „Judenbegünstigung“ schuldig gemacht hatte, so auch die Oberaufseherin Maria Mandl: ob sie nochmals versuchen würde, Juden außer Landes zu bringen. Lingens nennt Mandl an einer Stelle der Erinnerungen „Bestie“ und beschreibt, wie sie damals um eine Antwort rang. Ihr den Zorn oder das Entsetzen ins Gesicht zu schreien, wäre zwecklos gewesen. „Vor solchen Menschen Charakter zu bewahren, hieß Perlen vor die Säue werfen. ‚Es gibt ja gar keine Juden mehr in Wien‘, zog ich mich aus der Affäre.“

Ella Lingens blieb ihr Leben lang erinnerungspolitisch aktiv, sagte etwa im Frankfurter und im österreichischen Auschwitz-Prozess aus. Bei einem Schulbesuch wurde sie von einer Schülerin gefragt, ob sie trotzdem alles so gemacht hätte, wenn sie die Konsequenzen gekannt hätte: „Da war ich kurz sprachlos. Und dann habe ich gesagt: Ich weiß es nicht.“

Literatur

Ella Lingens, Gefangene der Angst. Ein Leben im Zeichen des Widerstandes, Wien-Frankfurt am Main 2003.

Ilse Korotin (Hrsg.), „Die Zivilisation ist nur eine ganz dünne Decke …“. Ella Lingens (1908–2002). Ärztin – Widerstandskämpferin – Zeugin der Anklage, Wien 2010.